Das Brave Mädchen wird erwachsen

Ich unterhielt mich mit einem ehemaligen Arbeitskollegen beim letzten Mittagessen über das Phänomen, dass Frauen oftmals nicht zu sich selbst, ihren Fähigkeiten, Kompetenzen und Bedürfnissen stehen können. Ich erzählte, dass ich über meine Tätigkeit als Systemische Beraterin immer wieder mit Frauen ins Gespräch komme, die aktuell auf der Suche nach sich selbst sind. Ganz gleich welchen Alters, ob Ende 30, Ende 40, Anfang oder Mitte 50 sie stellen sich erst spät, wenn sie schon zahlreiche Schritte auf ihrem beruflichen Weg gegangen sind, die Frage, was sie wirklich wollen. Häufig ist dies erst möglich, wenn es den Frauen so gut geht, dass ihre Grundbedürfnisse gestillt sind und darauf die Frage folgt: „Soll das alles sein?“, „Was möchte ich wirklich tun?“ oder „Ich suche nach einer Tätigkeit mit mehr Sinn, in der ich mir selbst treu bleiben kann.“ Mein ehemaliger Kollege erwähnte das Buch „Das Brave-Tochter-Syndrom“. Ich fühlte mich davon angezogen und bestellte es.
Grundsätzlich bin ich eine Freundin davon, kein spezielles Geschlecht hervorzuheben. In diesem Fall kenne ich mehr Frauen als Männer, die bestimmte Phänomene hervorbringen oder teilweise darunter sogar leiden. Sollte es Männern ähnlich gehen oder Männer sich ähnliche Fragen stellen, freue ich mich über Nachrichten mit einer solchen Perspektive.
Ich habe selbst bei mir noch ein Überbleibsel einer vergangenen Zeit vor kurzem entdeckt. Auch wenn meine eigene Geschichte hier gar nicht so sehr im Fokus stehen soll und ich vielmehr andere mit dem Projekt zur Reflektion anregen möchte, möchte ich ein paar Gedanken mit den Leserinnen und Lesern teilen.
„Ich will doch nur, dass es Dir gut geht!“
Meine Mama neigt dazu, uns „Gutes“ zu tun, in dem sie ganz vorzüglich kocht und uns immer wieder mit Herscharen von Köstlichkeiten und Süßigkeiten beglückt. Das ist einerseits sehr liebevoll und tatsächlich oftmals ein großes Glück. Jedoch geht dies manchmal über unser Bedürfnis hinaus. Wir haben schon keinen Hunger mehr, mit dem „Wir“ sind meine Schwester und ich gemeint, und lehnen ab. Meiner Schwester fällt dieses sehr leicht. Mir wiederum nicht. Und nachdem ich das Buch oben begann zu lesen, wurde es mir in einer meiner frühmorgendlichen Routinen der Espresso-Reflektion klar, dass ich auch eine solche brave Tochter bin oder gewesen bin. Gerade in Bezug auf meine Mama neige ich dazu, liebgemeinte Unterstützung anzunehmen, obwohl mir gar nicht nach dieser ist. Und ich vermute, dass es mit dem Phänomen zusammenhängt, dass ich sie ja schließlich nicht enttäuschen kann. „Lass mir doch als Deine Mutti eine Freude machen. Ich meine es doch nur gut.“ Na, wer von Euch kennt diese Sätze?
Die gute Absicht
Mir ist dabei wichtig zu erwähnen, die Loyalität meiner Familie gegenüber zu wahren. Heute als erwachsener Mensch kann ich anerkennen, dass jeder Teil aus bestem Wissen und Gewissen und aus der eigenen Perspektive heraus mit guter Absicht gehandelt und die Erziehung geprägt hat. Wären meine Eltern nicht so wie sie sind und waren, wäre ich heute vielleicht nicht so wie ich bin und sein werde. Und auch wenn es als Kind und Jugendliche nicht immer leicht war, wie sagte unsere Achtsamkeitstrainerin „Es ist so wie es ist…“. Gerade das Ablösen vom Elternhaus, eigene Werte, Muster und Verhaltensweisen zu entwickeln, gehört für mich zum Erwachsenwerden dazu und ist vielleicht der wichtigste Prozess unseres Lebens. Und zum Ablösen gehört für mich die Akzeptanz der unabänderlichen Vergangenheit, das Leben im Hier und Jetzt und das bewusste Gestalten der eigenen Zukunft und damit des eigenen Glückes dazu.
In einem Gespräch mit der Cousine meiner Mama vor kurzem wurde der Blick erneut auf das Thema gelegt. Dies wiederum hing auch damit zusammen, dass wir über das Buch über die brave Tochter sprachen, welches ich mit nach Hause gebracht habe. Wir sprachen über unser emotionales Erbe, über Verhaltensweisen, Regeln und Muster, die wir durch Erziehung und Sozialisation uns angeeignet haben.
Unser familiäres Erbe
Dabei ist mir aufgefallen, ganz gleich, welche Frau man in dem Familienstrang meiner Mama näher betrachtet, wir alle haben eine gutmütige, gebende Art in uns. Was es Positives mit sich bringt, wir fügen uns gut ein, sind gut im Kontakt mit anderen Menschen und werden als herzlich, freundlich und sehr sozial wahrgenommen und geschätzt. Soziale Anerkennung ist damit die Folge. Die Kehrseite der braven Tochter jedoch ist, dass bei all der Fürsorge für andere, man selbst ein wenig in Vergessenheit gerät. Ich selbst bin damit aufgewachsen, dass Egoismus eine schlechte Eigenschaft sei. Jedoch gab es nie etwas dazwischen. In einer Welt, in der das Individuum häufig gestärkt wird oder beinahe wichtiger ist als das Kollektiv, wird es für solche braven Töchter jedoch schwierig. Wie können wir eigene Grenzen erkennen, diese im Kontakt mit anderen wahren, Bedürfnisse ansprechen und nach ihnen unser Leben ausrichten?
Sich selbst zu lieben lernen
Heute als erwachsene Frau ist genau das, also die gesunde Form des Narzissmus oder auch Egoismus der Schlüssel zu einem zufriedenen Leben im Einklang mit anderen. Meine These ist: erst wenn wir uns ausreichend Liebe schenken, können wir auch wahre Liebe zurückgeben. Das Buch bestätigt dies und beschreibt, dass Frauen häufig geben, um eben Liebe und Anerkennung in Form von Dankbarkeit und Bindung zurückerhalten. Das mag kurzfristig vielleicht nach Glück ausschauen, führt mittel- und langfristig jedoch eher zur Abhängigkeit von der Bestätigung durch andere. Das Unglück ist vorprogrammiert.
Das Brave Mädchen wird erwachsen
Um auf das Glück anderer, insbesondere von Frauen einen kleinen Einfluss zu nehmen, Perspektivwechsel zu ermöglichen und von Erfahrungen anderer zu lernen, habe ich das Leseprojekt „Das Brave Mädchen wird erwachsen“ in Anlehnung an das Buch „Das Brave-Tochter-Syndrom“ von Beate Scherrmann-Gerstetter zum Leben erweckt. Häufig ist es für viele Menschen in herausfordernden Lebenssituationen oder bei der Überwindung der Stolpersteine des Lebens gut zu wissen, dass sie nicht allein mit diesen dastehen. Daher möchte ich die LeserInnen dazu animieren, Ihre Eindrücke mit anderen zu teilen. Einen geschützten Rahmen im Kreis anderer braver Töchter gibt es in unserer Facebook-Gruppe. Einen öffentlichen Rahmen gibt es über Beiträge auf meinem Blog und die Verbreitung auf Social Media.
Ich lade die LeserInnen dazu ein, sich über den eigenen möglichen Veränderungsprozess von einem braven Mädchen zu einer erwachsenen Frau Gedanken zu machen und diese zu konservieren. Wer Interesse hat, die Gedanken mit anderen Menschen öffentlich zu teilen, schreibt mir eine Mail. Du erhältst von mir einen Reflektionsfragebogen und wirst in den Newsletter aufgenommen.
Über Instagram haben wir eine Kette gebildet, die das Buch nach und nach weiterreicht. Produzierst du einen Beitrag zur späteren Veröffentlichung auf meinem Blog und Social Media, erhältst du von mir ein digitales Formular, in dem du Dein Einverständnis zur Veröffentlichung erklärst. Du kannst auch parallel einfach nur das in Eigenregie Buch mitlesen, Teil der Facebook-Gruppe werden und von mir die Reflektionsfragen erhalten.
Meine Vorstellung ist, dass ich nach Ablauf eines Jahres alle Beiträge inklusive meiner eigenen Gedanken zusammenfasse und bei Verlagen eine Veröffentlichung anfrage. Ich kann mir vorstellen, dass die verschiedenen Perspektiven und vielleicht auch erste Schritte anderer Frauen hilfreich für jene sind, die sich aktuell noch nicht auf den Weg gemacht haben und aktuell noch unter „Symptomen“ einer braven Tochter leiden. Ob das tatsächlich so geschehen wird, ist ein bisschen von dem abhängig, was jetzt und in den nächsten Monaten gemeinsam mit Euch daraus entwickelt wird. Ich bin gespannt und freue mich sehr auf den Austausch mit Euch.
Herzliche Grüße, Sandra.
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