„Das Ohr“ – Praktikum im Zuhörkiosk Hamburg
In 2018 hat in Hamburg „Das Ohr“ geöffnet. „Das Ohr“ ist ein Zuhörkiosk, welches von dem Drehbuchautor Christoph Busch im Bahnhof der U-Bahn Emilienstraße in Hamburg-Eimsbüttel gegründet wurde.
Ursprünglich hatte Christoph die Idee, in dem kleinen Bahnhofsraum an seinen Geschichten zu schreiben. Nach und nach hielt immer mal wieder jemand an und fragte, was der gute Mann dort so mache. Man kam ins Plaudern. Christoph erfuhr nach und nach sehr persönliche Geschichten und einzelne Schicksale seiner Gesprächspartner:innen. Der Bedarf, jemanden zum Plaudern zu haben, schien groß. So eröffnete Christoph kurzerhand „Das Ohr“. Recht unscheinbar mit einer Fahne versehen, mit ein paar Plakaten drumherum und liebevoll mit Schmuckstücken und Fotografien im Innenraum bestückt, lädt es bei einem Tässchen Kaffee zum Verweilen ein. Trotz des U-Bahn-Verkehrs fühlt man sich abgeschottet von allem und erlebt so etwas wie Privatsphäre. Ich fand die Idee so großartig, anderen Menschen ein Ohr zu leihen, dass ich bei Christoph vorbeischaute und ihm anbot mit zuzuhören, falls er mal eine Pause benötige.
Mein „Praktikumsbericht“ vom Nachmittag bei „Das Ohr“ – dem Zuhörkiosk in Hamburg
Vor einigen Tagen war es nun soweit, wir kamen noch einmal in den Kontakt und ehe ich mich versah, hielt ich einen Schlüssel zum Kiosk in den Händen. Es sind Sommerferien und Christoph genießt ein wenig Zeit mit seiner Familie.
Mein erster Einsatz war an einem Mittwochnachmittag. Ich habe mich unglaublich gefreut, diese Erfahrung machen zu dürfen. Ich bin beruflich als Coach tätig und unterstütze Menschen in belastenden Lebenssituationen. Somit dachte ich mir, liegt es gar nicht so fern, einen ehrenamtlichen Einsatz im Zuhörkiosk in meine Monatsplanung mit aufzunehmen. Gesagt getan, herzlichen Dank an Christoph für diese Möglichkeit und Erfahrung. Nun stand ich also mit geöffnetem Kiosk-Schalter dort und überlegte, wann und ob jemand reinschaut und mein Ohr nutzen wollte. Die ersten Kontaktversuche gingen von meiner Seite aus. Ich lehnte mich aus dem Fenster und sprach Menschen an, die in die Kiosk-Fenster schauten. Ganz unverbindlich stellte ich ihnen die Frage, ob sie schon mal hier gewesen seien. Sehr kritisch, ein wenig schüchtern schaute man mich an. „Was wohl für Menschen anderen Menschen ganz persönliche Dinge erzählten?“ kam als Frage auf. Genau die Frage, die ich mir auch stellte. Des Öfteren habe ich bereits an Bushaltestellen, auf längeren Zugfahrten oder im Café die Erfahrung gemacht, dass je nach Situation Menschen aus ihrem Leben und aus dem Nähkästchen plauderten, wenn es halt Bedarf gab und dann auch gern mit Fremden. Auf einer Festplatte schlummert auch die eine oder andere Geschichte von Menschen, die mir in Erinnerung geblieben ist. Somit war ich gespannt, welche Begegnungen sich nun hier in der Emilienstraße ergeben werden.
Mein erster Kontakt schien recht froh, als seine Bahn fuhr. Ich schien ihn durch meine spontane Ansprache ein wenig überrumpelt zu haben. Somit dachte ich mir, schaue ich mir erst einmal die Menschen in den ein- und ausfahrenden U-Bahnen an. In vielen Gesichtern war Stress, Anspannung und Genervtheit oder auch nur bloßes Dahinstarren zu erkennen oder – sagen wir eher – habe ich gedeutet. Viele wirkten nicht im Moment, sondern ihren Gedanken nachhängend oder in Grübeleien versunken. Aber dann sah ich das eine oder andere aufgeweckte Gesicht. Vor allem von Kindern, die neugierig schauten, was nun die Frau in dem bunten Kleid in diesem kleinen Raum dort mitten in der U-Bahn machte. Lächeln, Grimassen schneiden, Winken – das war schön. Teilweise sogar ein freundlicher Blick der Eltern. Erklärende Worte, auf die Schilder am Zuhörkiosk zeigen – ein dankbares Lächeln wurde von vielen geschenkt.
Somit habe ich es weiter versucht, diese Mal mit weniger Worten und direkter Ansprache, sondern nur mit einem kleinen Lächeln. Das ging schon besser. Ein leichtes Lächeln und schon kam ein leichtes Lächeln zurück. Manchmal auch ein irritierter Blick. Meint sie mich? Warum oder wozu lächelt mich ein fremder Mensch an?
Neue Taktik: ich schreibe meine Gedanken an dem geöffneten Schalter wie beiläufig auf. Und plötzlich – es rollt ein Wägelchen an. So ein Wagen, den man im Alter als Gehhilfe nutzt. Die Dame fängt von sich aus an zu erzählen. Sie sei seit kurzem wohnungslos. Man habe ihr sogar ihre Katzen weggenommen. Jetzt wohne sie in einer Unterkunft ums Eck für Wohnungslose. Und nun käme auch noch das ganze Theater mit den Anwälten und so – wenn sie ihr doch nur nicht die Katzen weggenommen hätten. Wir wünschen uns einen schönen Tag und die etwas aufgewühlte Dame rollte von dannen. Puh – in meinem Kopf entwickelte sich die Geschichte weiter. Wie es wohl dazu gekommen sein mag, dass es der Dame so geht wie es ihr geht? Und was macht man jetzt? Wie geht das weiter? „Zumindest hat sie eine Unterkunft“, sage ich mir.
Weiter geht´s. Immer mal wieder guckt jemand vorbei, mal neugierig fragend, was das eigentlich so sei, mal ein Dankeschön reinwerfend: „Toll, dass ihr das macht.“ „Gebe ich gern weiter.“ so meine Antwort.
Und wieder, ich kritzelte gerade etwas, da schaute ein Mann vorbei. Er müsse auch mal bei „ihm“ vorbeischauen. „Er“ sei ja quasi eine Momo. Toll sei das. Und das sei echt kostenlos? Er brauche wohl selbst noch Jahre bis er selbst eine Momo sei. Nun ja, vorbeikommen möchte er gern, denn „er“ (er meint Christoph) habe einen anderen Zeitfluss. Der Mann schien ein wenig unsicher und aufgeregt. Schnell lief er nach dem Mini-Gespräch, eher dem Monolog, Richtung Bahn und verabschiedete sich fix. Was ihn wohl so gerade beschäftigen mag, warum könne er keine Momo sein? Fragen bleiben bei mir zurück.
Weiter geht es, Menschen beobachten, dem Treiben folgen. Ich werde mutiger. Versuche einfach mal nur zu gucken. Einfach Menschen angucken, nicht angespannt, nicht überschwenglich, sondern einfach nur direkt anschauen. Einmal wage ich es durch die Kioskscheibe und durch das U-Bahn-Fenster hindurch einem Mann direkt in die Augen zu schauen. Einfach nur so. Absichtsloses Schauen. Habt ihr das schon mal gemacht? Das ist absolut spannend, was das mit einem macht und kann man auch gar nicht so in Worte fassen. Einfach mal machen und ausprobieren.
Wieder mache ich Notizen, um diese ganzen Eindrücke zu Menschen und Menschsein zu verarbeiten und nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Plötzlich steht eine junge Frau vor mir. Ich schaue auf, sage freundlich „Hallo“ und schon erzählte sie ihre Geschichte. Sie sei obdachlos und im fünften Monat schwanger. Sie zeigt auf ihre Haare, die im letzten Jahr abgebrannt wurden. Ich glaube, sie war es selbst, die sich die Haare abgebrannt hat. Ich erinnere mich nicht mehr ganz an ihre Worte. Dann zeigte sie auf ihr Dekolleté. Die Brandblasen waren noch zu erkennen. Aber damit war die Geschichte noch nicht zu Ende. Ich war erstaunt über ihre Offenheit. Sie bat um ein wenig Wasser. Draußen ist es gerade unerträglich heiß, so gab ich ihr gern den letzten Schluck aus meiner Viva con Agua-Flasche inkl. Flasche, damit sie gleich das Pfandgeld für sich nutzen konnte. Plötzlich wurde sie ängstlich, sie dürfe hier nicht betteln. Nur nachts am Hauptbahnhof und auf der Reeperbahn sich aufhalten. Naiv fragte ich: „Warum?“ Wegen der Bewährungsauflagen. Sie gab noch den Hinweis, dass man beim Betteln immer freundlich zu den Menschen sein solle. Das sage sie auch immer den anderen, die auf der Straße leben. Sie gab mir aber auch zu verstehen, dass das mit der Freundlichkeit nicht immer möglich sei, wenn man so richtig Hunger habe. Meine Versuche in Richtung, was man alles so tun könne, um ihre Situation zu verbessern, liefen ins Leere. Hmm.. nun ja, ist ja auch ein Zuhörkiosk und nicht ein Hilfe-Kiosk. Und da hatte ich verstanden oder – besser – ich spürte, da ich zunehmend angespannter wurde, dass diese Aufgabe des absichtslosen Zuhörens, dem Zuhören menschlicher Geschichten und vor allem so nahegehender persönlicher Schicksale so gar nicht meines ist. Zuhören ist gut und wichtig, ich persönlich mag und will als Veränderungsbegleiterin Umstände verändern, unterstützen und brauche eine andere Form der Wirksamkeit. Es war ein komisches Gefühl, als ich in meinen Öko-Bio-irgendwas Fruchtriegel biss und meine sieben Sachen packte und in meinen – sagen wir mal – wattierten Stadtteil auf der anderen Alsterseite zurückradelte.
Mein Resümee
Vielen lieben Dank an Christoph und vor allem auch die Menschen in sozialen Arbeitsbereichen, die anderen in Lebenssituationen, wie jenen geschilderten von meinem Zuhörnachmittag, zur Seite stehen und auch stehen können. Ich glaube, da gehört ganz viel dazu, viel Kompetenz, viel Herz und viel Abgrenzungsvermögen. Schade, dass dieses so wenig monetär entlohnt wird. Wusstet ihr, dass im Jahr 2016 über 14 Mio. Deutsche in Ehrenämtern tätig waren? Ich glaube, wir können absolut dankbar für diesen Einsatz sein. Gerade weil Menschen hier von ihrer persönlichen Zeit etwas abzapfen und damit einen wesentlich Beitrag zum Wohlergehen anderer leisten (in z.B. Bürgerinitiativen, Sportvereinen oder eben sozialen Organisationen).
Noch einmal mehr wurde mir durch diesen Nachmittag bewusst, wie gut es so manchem von uns geht. Ich bin häufig in der Social Media Welt unterwegs und beschäftige mich gern mit den Anliegen meiner Kunden und Klienten, Arbeits- und Lebenssituationen zu verbessern. Im Vergleich jedoch zu manch anderem geht es uns doch im Allgemeinen sehr gut. Und mit diesem Bewusstsein durch die Welt zu gehen, kann gewiss helfen, Krisen zu meistern und bestimmt auch anderen Menschen mit Respekt, Toleranz und Wertschätzung zu begegnen bzw. sie überhaupt wahrzunehmen. Denn wir sind nicht allein auf dieser Welt. Manchmal ist der Kreis, in dem wir uns befinden, doch recht klein oder wir nehmen manchmal nur diesen kleinen Kreis wahr. Dabei ist doch die Welt, in der wir alle leben, wesentlich größer.
„Das Ohr“ ist inzwischen ein gemeinnütziger Verein und um zahlreiche Unterstützer:innen gewachsen. Wenn Ihr etwas Gutes tun wollt, schaut gern mal bei „Das Ohr“ vorbei. Digital auf der Website oder ganz analog an der U-Bahn Emilienstraße.
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